Franz Müntefering war als Gastredner in Osterode, als der Orstverein sein 140-jähriges Bestehen gefeiert hat. Dabei gab der SPD-Bundesvorsitzende einen unterhaltsamen geschichtlichen Überblick über die Sozialdemokratie in Deutschland. "Zu Ende ist die Geschichte nicht!" sagte er. "Nichts, was erstritten ist, ist sicher." So könne der Wohlstand sinken, genauso wie die Sicherheit oder die Demokratie gefährdet seien, wenn man nichts dafür tue.

Ortsvereinsvorsitzender Karl Heinz Hausmann strahlte, als er Franz Müntefering begrüßte. Bis zuletzt habe er gezittert, denn eingeladen habe er den Gast schon, bevor dieser als neuer Parteivorsitzender im Gespräch und vor einer Woche gewählt wurde. Da waren die jetzigen Termine noch gar nicht absehbar. Franz Müntefering ging nicht direkt darauf ein, sondern sagte nur, dass Osterode einen der ältesten Ortsvereine überhaupt hat (gegründet 1868). Fünf Jahre zuvor war in Leipzig im kleinen Kreis der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein gegründet, aus dem die SPD hervorging. „1863 begann die organisierte Arbeit der Sozialdemokraten“, so der Festredner. Es sei eine Zeit gewesen, in der die „Menschen unterwegs“ waren, die Zeit der Aufklärung und des Humanismus. Und während die Humanisten sagten: „Die Gedanken sind frei“, sagten die Sozialdemokraten: „Auch das Handeln muss frei sein.“

Zwei Grundsätze hätten am Anfang gestanden, sagte Müntefering: Die Erkenntnis, dass nichts besser werde, wenn man es nicht selbst mache, und dass man sich organisieren müsse, um die Ziele gemeinsam zu erkämpfen. Auch wenn man in den vergangenen 140 Jahren viel erreicht habe, gebe es kein Paradies auf Erden. „Das unterscheidet die SPD von allen links und rechts, dass sie wissen, dass nichts Erreichtes sicher sei und immer wieder erarbeitet werden muss. Andere haben eine Mauer gebaut, weil sie dachten, sie könnten den Fortschritt zementieren.“

Franz Müntefering referierte ganz ruhig. Schließlich war er nicht im Wahlkampf. Trotzdem gingen ihm die politischen Themen nicht aus. Schon sehr früh habe die SPD Arbeiterbildungsvereine gegründet in der Erkenntnis, dass Bildung die Grundlage zur Demokratie sei. Nur Unwissende könne man leicht regieren und unterdrücken. Deshalb bleibe Bildung ein zentrales Thema. Aus seiner Klasse, berichtete der Gast, seien vier zum Gymnasium gegangen und hätten studiert. Heute seien es 30 bis 35 Prozent eines Jahrgangs. Allerdings: „Wer heute studiert, kann nicht mehr sicher sein, einen Job zu finden.“ Das habe sich geändert. 80 000 Jugendliche verließen auf der anderen Seite die Schule ohne einen Abschluss. „Hier liegt das Hauptaufgabengebiet der SPD“, sagte er und wies darauf hin, dass es weder Eltern noch Kinder interessiere, wer die Bildung bezahle, ob Bund oder Land. Auch für die Zuständigkeitsstreitigkeiten habe niemand Verständnis. Schon vor vier Jahren habe die SPD 230 000 Kinderkrippen bis 2010 gefordert. Das seien keine „Kinderverwahranstalten“, sondern sie dienten der Entwicklung der Kinder. Man sollte nur daran denken, wie viele Einzelkinder es in Familien gebe, die in Kinderkrippen lernen müssten, sich mit Gleichaltrigen auseinanderzusetzen und auch durchzusetzen. „Da wächst das Rückgrat. Daraus werden qualifizierte Menschen.“

Bildung sei ein Menschenrecht, so ein zentraler Satz, und „keine abgeleitete Größe der Bedürfnisse der Wirtschaft“. Jeder habe das Recht Bescheid zu wissen. „Das ist eine sozialdemokratische Fahne.“ Deshalb sei für Sozialdemokraten das Frauenwahlrecht auch nur logisch gewesen. Bei seinem Rückblick ging der Bundesvorsitzende durchaus auch selbstkritisch mit seiner Partei um. So habe man nach der Grenzöffnung in den 90er Jahren die Entwicklung verschlafen, sich auf Frieden und Wohlstand ausgeruht, während die europäischen Nachbarn ihren Staat modernisierten. Ein wichtiger Meilenstein sei aber dann Gerhard Schröders Entscheidung als Bundeskanzler gewesen, nicht in den Irak-Krieg zu ziehen. „Die Entscheidung ist ihm schwer gefallen“, wusste Müntefering. Die Erkenntnis habe ihn geleitet, dass nicht die Stärksten entscheiden können, ob es Krieg gibt oder nicht. Und mit Respekt hätten andere Völker am deutschen Beispiel erkannt: Man kann auch nein sagen an dieser Stelle.“

Bis in die Gegenwart zog sich Münteferings Streifzug durch die Geschichte aus sozialdemokratischer Sicht. Zuletzt kritisierte er, dass Manager in Banken dun großen Konzernen nach Gewinn bezahlt werden. Denn wer 29,2 Prozent Gewinn in einem Jahr erwirtschafte, könne das nur mit massivem Personalabbau geleistet haben. Die Sparkassen hätten in der gleichen Zeit „nur“ 7,3 Prozent Gewinn erwirtschaftet. Sie sind nach seiner Ansicht „die solideste Form der Bank“, weil die Kommunen sie absicherten. „Europa kann uns nicht zwingen, sie abzuschaffen, bloß weil sie diese Einrichtungen nicht haben. Die sollen das doch selbst auch machen“, argumentierte er.

Die Finanzkrise sei nicht zu Ende und werde auch Arbeitsplätze kosten, sagte der Parteivorsitzende. „Die Bude brennt. Da müssen wir zuerst löschen und ein Dach drauf setzen. Aber den Halbstarken, die das Feuer angesteckt haben, werden wir auch noch den Hosenboden versohlen.“

Müntefering schloss, dass die SPD in zehn Jahren ja ihr 150-jähriges Bestehen feiern könne. Wenn er dann wieder eingeladen werde, sei er vielleicht zehn Jahre Parteivorsitzender. Am Ende der Veranstaltung lies sich Franz Müntefering viel Zeit für Gespräche mit den Gästen. Viele baten um ein Autogramm oder ein gemeinsames Foto mit dem Spitzenpolitiker. Und der Vorsitzende hatte offenbar Zeit für alle.